Eigentlich müsste dieser Artikel den Titel آموختن یاد گرفتن است؟ (Ãmukhtan yãd gereftan ast?) tragen. Aber das ist persisch bzw. seine afghanische Variante das Dari und eben nicht jedem geläufig.
Das im Iran gesprochene Persisch und das in Afghanistan gesprochene Dari sind sich so ähnlich, dass sich die Muttersprachler beider Länder verständigen können. In Afghanisten haben sich allerdings verschiedene Worte und grammatikalische Formen erhalten, die im Iran vor allem durch den stärkeren Einfluss islamischer Kultur verloren gegengen sind. Und so auch bei den zwei Termini für „lernen“. Bei آموختن (ãmukhtan) handelt es sich um das afghanische Wort, bei یاد گرفتن (yãd gereftan) um das iranische. Nun hat آموختن (ãmukhtan) nicht nur die Bedeutung „lernen“ sondern auch „folgen“, یاد گرفتن (yãd gereftan) bedeutet wörtlich übersetzt „Erinnerung nehmen“.
Und was macht diesen Wortwandel so bezeichnend?
Wenn man sich eine Form des Lernens vergegenwärtigt, die gleichzeitig Folgen ist, wird deutlich, dass das Lernen ein sehr sozialer Akt ist. Gelernt wird, indem junge Menschen den alten folgen, Lehrlinge den Meistern, junge Mütter den kräuterkundigen Großmüttern … . Bei dieser Form des Lernens findet mehr als nur die Vermittlung von Wissen statt. Soziales, kognitives und physischen Können sind hier eng miteinander verwoben, die Erlangung von Fähigkeiten findet auf allen Ebenen gleichzeitig statt. آموختن (ãmukhtan) als Lernform kommt weitgehend ohne Schrift aus.
„Folgen“ hat darüber hinaus eine hierarchische Komponente, es gibt den Führenden und den Folgenden. Neben der Schriftferne weiter Teile der afghanischen Bevölkerung spiegelt sich hier die starke hierarchische Prägung der afghanischen Gesellschaft wieder.
یاد گرفتن (yãd gereftan) hingegen setzt allein auf die Erlangung von Wissen. Die soziale Komponente spielt bei diesem Terminus eine nebensächliche Rolle. „Erinnerung nehmen“ kann sogar auf das Auswendiglernen von Buchwissen reduziert sein. یاد گرفتن (yãd gereftan) spiegelt damit den größeren Einfluss scholastischen Lernens im Iran als in Afghanistan wieder.
Vergleichbar sind diese zwei Termini mit den zwei deutschen Worten „lernen“ und „studieren“, nur eben mit dem Unterschied, dass das Wort „studieren“ nur für die Erlangung von Wissen im akademischen Bildungsweg verwendet wird.
Damit sind diese zwei Termini für vordergründig ein und dieselbe Sache Spiegel eines bedeutenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandels der persischen Gesellschaft, welcher mit der Islamisierung vor fast 1400 Jahren stattfand, und bis heute diese zwei Länder durchaus unterschiedlich macht.
Und was bedeutet dieser Wortwandel für unser heutiges Lernen?
Wir stehen, so wie die persische Gesellschaft vor 1400 Jahren, am Beginn eines essentiellen technologischen und damit gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs. Triebfeder dieses Umbruchs ist die zunehmende elektronische Datenverarbeitung und -übertragung.
Bisher ist Lernen an soziale Handlungen, Nutzung von Gegenständen und die Überwindung von Raum gebunden. Man muss zu einem Lehrer, ein Buchgeschäft oder eine Bibliothek gehen. Dort muss man mit Personen reden, man muss Bücher oder Lehrmaterial benutzen.
All dies kann durch die Nutzung elektronischer Datenverarbeitung fast vollständig entfallen. Man kann im Internet recherchieren, sich Onlinetutorials anschauen, online durch die Städte und Landschaften der Welt surfen und vieles mehr. All das funktioniert ohne Sozialkontakt, ohne die Überwindung von Raum und ohne jede physische Berührung mit dem Erlebten und Gelernten.
Die Visionen von Transhumanisten sehen sogar die Verschmelzung von Mensch mit Maschine vor. An das Gehirn angeschlossene Prothesen ersetzen heute bereits Organe, über Chips sollen Gedanken und Gefühle gesteuert werden.